PROTESTE IN NEW YORK: NACHWUCHSJOURNALISTEN IM AUSNAHMEZUSTAND

„Wir machen das hier jetzt rund um die Uhr, wir schlafen kaum, und das hat seinen Preis. Angesichts der Ereignisse ist das nicht so wichtig, aber es gehört dazu, deswegen wollte ich es mal sagen“, sagte Maria Shaughnessy in der vergangenen Woche im studentischen Radiosender WKCR, live vom Campus der Columbia Universität – und damit gab sie zurück zur Musik, die eigentlich oft die Hauptrolle spielt, nur nicht im Moment. Mit Charles Mingus nonstop zu dessen Geburtstag wollten die Redakteure am Montag letzter Woche starten, den Donnerstag komplett für Ella Fitzgerald reservieren. Doch nun waren die Musiklegenden nur die Pausenfüller, bis die Journalisten im Studio wieder zu ihren Live-Reportern schalteten, 24 Stunden vom propalästinensischen Protestcamp, das international Schlagzeilen macht.

Niemand ist näher dran als die Journalisten von WKCR und von der Zeitung „Columbia Daily Spectator“, die jeden Tag im Netz und einmal pro Woche auf Papier erscheint. Beim „Spectator“ arbeiten um die fünfzig Kommilitonen. Das Studentenradio hat allein neunzehn Redakteure nur zu den Protesten auf den Campus geschickt. Sie arbeiten ehrenamtlich, viele wollen auch nach dem Abschluss Journalisten sein. „Wenn wir gerade nicht berichten oder im Studio sind, denken wir daran, was passiert, oder wir sind im Bett, und dann träumen wir vielleicht davon“, sagte Programmchefin Georgia Dillane dem Magazin „Mother Jones“. Entsprechend gereizt reagieren sie, wenn bezahlte Kollegen ihre Berichterstattung nutzen, ohne die Quelle zu nennen.

Denn unbemerkt ist der Dauereinsatz nicht geblieben – die studentischen Journalisten werden von Kollegen gelobt, ins Fernsehen eingeladen, in den sozialen Medien gefeiert, von Professoren via X für Jobs empfohlen. Zu Recht. Ihre Seite sei in einer Woche mehr als vierhunderttausendmal aufgerufen worden, sagte Isabella Ramírez, Chefredakteurin des „Spectator“ dem „Columbia Journalism Review“ – davor hätten die Abrufe bei zwei oder drei Millionen im gesamten Jahr gelegen.

Welche Gemeinschaft

Die Reporter bemühen sich um ausgewogene Berichterstattung nach dem Motto „Sagen, was ist“ – besonders die Radiojournalisten beschreiben vor allem, was sie im Camp und der Umgebung sehen und hören. In der jetzigen Situation sei die Berichterstattung ein Prozess konstanten Lernens, sagte Ramírez. Sympathien für die Demonstranten sind allerdings oft erkennbar. Dass die Polizei auf Bitten von Präsidentin Minouche Shafik auf den Campus kam, nachdem die Studierenden das „Gaza Solidaritäts-Camp“ aufgebaut hatten, und mehr als einhundert Studierende festnahm, wird deutlich kritisiert.

Die Radiostation und die Studentenzeitung hatten Neuigkeiten in den letzten Tagen oft als Erste gemeldet. Etwa als die Nachricht von einem mitternächtlichen Ultimatum der Präsidentin die Runde machte und die Studierenden aus Angst vor einem neuerlichen Polizeieinsatz am vergangenen Dienstag Zelte abbauten. Bei WKCR gibt es oft Interviews mit Studierenden, die ihre Forderungen wiederholen: Sie wollen ein Ende der Investitionen der Hochschule in Israel und verlangen, dass Columbia die Zusammenarbeit mit der Universität Tel Aviv beendet. Es kommen aber auch Gegner der Demonstranten zu Wort. Am Donnerstagabend war ein Stück von Kosha Dillz zu hören, dem israelisch-amerikanischen Rapper, der einen Song über die Befreiung der israelischen Hamas-Geiseln geschrieben hat („Bring the Family Home“) und der auf seinem Instagram-Account gern propalästinensische Demonstranten vorführt, indem er ihnen Detailfragen über den Konflikt stellt.

Studentische Journalisten äußern natürlich auch ihre eigenen Ansichten zu den Auseinandersetzungen auf dem Campus. In einem Kommentar, der die Meinung der Mehrheit der „Spectator“-Redaktion wiedergebe, schrieben sie, dass die Präsidentin zwar stets von der Hochschule als „Gemeinschaft“ spreche, die protestierenden Kommilitonen aber als Außenseiter behandele. „Unsere Gemeinschaft wird nicht von unserer Verwaltung definiert. Die Verwaltung ist nicht Columbia. Wir sind es“, so die Journalisten.

Shafik liege richtig, wenn sie antisemitische Vorfälle während der Proteste verdamme, aber da die Hochschulleitung „nur Hass von einer Seite“ benenne, ohne sich zum Krieg in Gaza oder zu Feindseligkeiten gegen Muslime und Palästinenser zu positionieren, entstehe ein einseitiges Bild. Im offiziellen Referendum am zur Universität gehörenden Columbia College etwa hätten rund 77 Prozent der Studierenden für den Rückzug der Hochschule aus israelischen Investitionen und rund 66 Prozent für ein Ende des Doppeldiploms mit der Universität Tel Aviv gestimmt. Es sei wahr, dass eine große Zahl von Studierenden die Proteste für nutzlos hielten und zum normalen Betrieb zurückkehren wollten – doch die Vielfalt der Meinungen müsse willkommen sein.

Esha Karam, Chefin vom Dienst beim „Spectator“, sagte der „Columbia Journalism Review“, dass Präsidentin Shafik der eigenen Hochschulzeitung kein Interview gebe: „Wir versuchen das schon das ganze Semester.“ Teile der Studentenschaft und die Leitung seien seit dem Polizeieinsatz gespalten und misstrauten einander – wie Columbia die Wunden heilen könne, sei eine offene Frage, sagte Chefredakteurin Ramírez im Podcast „The Daily“ der „New York Times“.

Eine Woche nachdem die Polizei auf den Campus marschiert war, meldete WKCR, die Hochschulleitung habe zugesichert, dass es an diesem Tag keinen neuen Polizeieinsatz geben werde. Stattdessen wurde von einem möglichen Deal zwischen Hochschulleitung und Studenten gesprochen. Liveschalte zum Campus: ein Aktivist gab einen Zwischenstand der laufenden Verhandlungen. Die Präsidentin habe angeboten, palästinensische Studierende stärker zu unterstützen, zum Beispiel mit Stipendien. Außerdem soll es ein neues Verfahren geben, mit dem die Finanzgeschäfte der Hochschule transparent gemacht werden. Auch die Rücknahme von Suspendierungen sei auf dem Tisch. „Sie machen keine Zusagen zu Boykott und Rückzug aus Investitionen in Israel“, sagte der Aktivist. Deswegen bleibe das Camp hier. Bis zu den nächsten Neuigkeiten, „stay tuned“ – bis zur Nachrichtenpause mit Ella Fitzgerald.

2024-04-29T05:55:14Z dg43tfdfdgfd